Die Vorstöße von Dr. Frank-Ulrich Montgomery (Präsident der Bundesärztekammer) und auch von Jens Spahn (Bundesgesundheitsminister) bei der Organspende die bestehende Entscheidungslösung durch eine Widerspruchsregelung zu ersetzen hat die Diskussion um die Organspende neu entfacht. Ziel des Änderungsvorschlages ist es, die Anzahl der Spenderorgane, welche 2017 auf einen historischen Tiefstand gesunken ist, wieder zu erhöhen. Eine Widerspruchslösung würde bedeuten, dass jeder Mensch nach seinem Tod ein potentieller Organspender wird, wenn er dem nicht explizit zu Lebzeiten widersprochen hat. Eine solche Widerspruchslösung würde mit den folgenden drei offenen ethischen Fragen kollidieren:
1. Autonomie des Einzelnen vs. Paternalismus des Staates
Bei der Zulässigkeit der Widerspruchslösung geht es um die zentrale Frage, inwieweit der Staat weiter in die Autonomie des einzelnen Bürgers eingreifen darf, um aus utilitaristischen Gründen das mangelnde Angebot an Transplantationsorganen zu erhöhen. In anderen gesellschaftlichen Bereichen hat der Staat versucht, durch entsprechende Gesetzte die Autonomie der Bürger durch Informations- und Zustimmungsverpflichtungen zu schützen, beispielhaft seien nur die Gesetze zum Datenschutz und zur Wertpapierberatung genannt. Bei der Organspende würde die Widerspruchslösung aber genau in die entgegengesetzte Richtung führen. Menschen würden zu Organspendern, ohne dass sie jemals über die Konsequenzen informiert oder ihre Zustimmung eingeholt worden wäre und dies bei einem Thema welches Leben und Tod betrifft. Hierbei nimmt man billigend in Kauf, dass insbesondere uninformierte Menschen zukünftig zu bevorzugten Organspendern werden. Was bei materiellen Gütern noch undenkbar ist, soll bei Organen die Regel werden: ohne Widerspruch fällt alles nach dem Tode an die Allgemeinheit.
2. Todeszeitpunkt und Problematik des Hirntodkriteriums
Da in Deutschland die Vorgabe, dass lebensnotwendige Spenderorgane nur Toten kommen dürfen (dead donor rule), unstrittig ist, entwickelt sich die Frage des Todeszeitpunktes und seiner Definition zum Angelpunkt der Diskussion. In Deutschland wird hierzu der sogenannte Hirntod herangezogen. Die exakte Definition ist nicht in allen westlichen Staaten identisch, in Deutschland wird aber die strengst Auslegung (Ausfall Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm) herangezogen. Dennoch gibt es zum einen auch bei uns belegte Fehldiagnosen zum anderen zeigen Hirntote, welche künstlich beatmet werden, Eigenschaften, die wir eher einem Lebenden als einem Toten zusprechen würden. So können hirntote Menschen Kinder austragen, sie zeigen Herzschlag und Körperwärme, sie reagieren auf Infektionen mit Fieber, reagieren auf Stress mit Blutdruckanstieg und letztlich könnten sie sogar Kinder zeugen. Hierbei ist auch anzumerken, dass im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts die Todesdefinition für einen Menschen eher unschärfer geworden ist. Man begreift den Menschen heute zunehmend in seiner Gesamtheit, welche mehr als die Summe von Organfunktionen ist. Alle diese Fakten sprechen mehr dafür, hirntote Menschen als (unumkehrbar) Sterbende denn als Tote zu sehen. Es besteht also der Grundkonflikt, dass der Hirntod als Todeskriterium nicht objektivierbar ist, seine Akzeptanz hängt von Grundeinstellung des einzelnen Betrachters ab. Der eine sieht sie als Tote, deren Organfunktion aufrechtgehalten werden, der anderen sieht sie als Sterbende im letzten Stadium vor dem Tod. Daher darf ein Staat nicht so übergriffig werden, dass eine Organentnahme nach dem Tod durch einen Widerspruch aktiv abgelehnt werden muss, insbesondere wenn der Grund hierfür der rein utilitaristisch zu sehende Mangel an Transplantationsorganen ist.
3. Patientenfürsorge vs. Erhalt der Spenderorgane
Auch ein Sterbender bleibt bis zu seinem Tode ein Patient mit allen Rechten. Hierzu gehört auch, dass nur genau die medizinischen Behandlungen vorgenommen werden dürfen, welche dem Patienten noch nutzen. Die optimale Erhaltung der Spenderorgane fordert hingegen Behandlungen, die für den Sterbenden keine Vorteile, ggf. sogar Nachteile haben werden. Bei einer aktiven Zustimmung des Patienten kann man von einem Einverständnis in diese Behandlungen, welche nur seine Spenderorgane erhalten sollen, ausgehen, bei der Widerspruchslösung hingegen nicht. Bei einem unfreiwilligen Spender erfüllen diese Eingriffe dann ggf. sogar den Tatbestand der Körperverletzung insbesondere dann, wenn im Nachhinein eine Patientenverfügung mit gegenteiligen Festlegungen auftaucht. Kann ein Todkranker zukünftig weiterhin erwarten, dass er die beste Fürsorge bis zu seinem Tod erhält oder wird er bereits weit vor dem Todeszeitpunkt nur noch als Organlager angesehen werden?
Wenn man nun die Bereitschaft zur Organspende erhöhen möchte, dann ist eine Widerspruchslösung der falsche Weg. Die Widerspruchslösung, welche momentan aus reinen Nützlichkeitserwägungen heraus propagiert wird, ignoriert offene ethische Fragen oder versucht sie durch ein „moralisches Basta“ abzuschließen. So übergeht sie die kritische Einstellung vieler Bürger und erhöht am Ende nur die Staatsverdrossenheit.
Der bessere Weg ist, die Ursachen für die geringe Spendenbereitschaft zu ergründen und zu beseitigen. Dies betrifft klare, nachvollziehbare und rechtlich überprüfbare Regeln für die Organvergabe, Einrichtung eines unabhängigen Kontrollsystems und ehrliche Information über Hirntod und Begleiterscheinungen der Organentnahme.
Ein Kommentar von Stefan Grieser-Schmitz, Koblenz 04.09.2018