Das Hirntodkonzept besagt, daß ein Mensch tot sei, wenn sein gesamtes Gehirn abgestorben ist, und daß das Überdauern einzelner Lebensfunktionen dem nicht widerspreche. Der Einwände dagegen gibt es viele, und sie sind in dieser Zeitung ausführlich und mit Leidenschaft vorgetragen worden. Die Transplantationsmedizin benötigt das Hirntodkonzept, weil sie sich der „dead donor rule“ verpflichtet fühlt, also der Regel, daß ein Organspender tot sein müsse, wenn man ihm in einer Weise Organe entnehme, die bei einem Lebenden zum Tode führen würde. Insoweit ist sie sich mit dem Papst einig, der solche Organspenden nur „ex cadavere“, also nur von einer Leiche, für zulässig hält. Nun gibt es aber aus vielerlei Gründen zu wenig Organe, um den Bedarf zu decken, was für viele Kranke regelmäßige zeitraubende, teuere und belastende Behandlungen - etwa mit der künstlichen Niere - oder gar den Tod bedeutet. Eine neuere Praxis und ein neuer Vorschlag zur Behebung des Mangels an Spenderorganen fordern zu kritischer Betrachtung heraus
„Spender ohne Herzschlag“
Einer der Gründe für die Organknappheit ist sicher, daß das schwer zu verstehende Hirntodkonzept viele Menschen nicht überzeugt, die deswegen eine Organspende ablehnen. Um dem entgegenzuwirken, und auch um die langwierige Prozedur der Hirntodfeststellung - stundenlange Wartezeit zwischen einer ersten und der den Tod bestätigenden Untersuchung oder aber umständliche technische Maßnahmen - zu umgehen, wird neuerdings das Konzept des „non heart beating donor“ (Spender ohne Herzschlag) propagiert und in einzelnen Ländern (nicht aber in Deutschland!) bereits praktiziert. Auf den ersten Blick erscheint es durchaus annehmbar und der Tradition entsprechend, einen Menschen dessen Herz nicht mehr schlägt, für tot zu halten. Nach der „dead donor rule“ oder der päpstlichen „ex cadavere“-Bedingung gäbe es bei einem so „Herztoten“, wenn die übrigen Voraussetzungen (Einverständnis) gegeben wären, keine ethischen Bedenken gegen eine Organentnahme. Doch bei genauerem Hinsehen stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten, denn ein bloßer Herzstillstand kann nicht als Todeskriterium gelten; vielmehr müßte das Herz endgültig zu schlagen aufgehört haben. Das läßt sich aber erst nach einiger Zeit im Nachhinein erkennen. Endgültig ist ein Stillstand des Herzens aber nicht, so lange es von selbst wieder anfängt zu arbeiten oder durch Herzmassage oder elektrische Reizung, sogenannte Reanimationsmaßnahmen („Wiederbelebung“), künstlich dazu gebracht werden kann. Eine einheitliche Meinung darüber, nach welcher Zeit eine Reanimation das Herz wieder zum Schlagen bringen kann, gibt es nicht, doch sind es sicher mehrere Minuten, vielleicht sogar zehn. Wichtig ist aber, daß der Mensch, solange er „wiederbelebbar“ ist, kein Toter, sondern ein Lebender ist. Eine Organentnahme in dieser Zeit der Wiederbelebbarkeit würde der „dead donor rule“ beziehungsweise der Bedingung „ex cadavere“ widersprechen, weil sie mindestens im Zweifel tötend ist.
Ein weitere praktischer Grund muß zur Ablehnung des Konzeptes „non heart beating donor“ führen: Je länger ein Organ mangels Herzschlag im körperwarmen Zustand nicht durchblutet wird, also je länger die sogenannte „Warmzeit“ bis zu seiner Entnahme und Kühlung dauert, desto intensiver wird es geschädigt und damit für eine Transplantation weniger gut geeignet. oder gar ungeeignet. Die Transplanteure müssen deswegen dazu tendieren, die Warmzeit möglicht kurz zu halten, also die Organe sofort oder doch wenigstens ganz schnell nach einem Herzstillstand zu entnehmen. Das Abwarten der sicheren Todeszeichen, wie sie nach etwa 20 Minuten als Totenflecke und dann als Totenstarre auftreten, macht eine erfolgreiche Organtransplantation unmöglich. Im übrigen ist es eine absurde (und unmenschliche) Vorstellung, daß ein Operationsteam stundenlang vor einem auf dem Operationstisch liegenden Sterbenden untätig abwartet, daß das Herz zu schlagen aufhört, um dann sofort mit der Organentnahme beginnen zu können. Eher wird man lebenserhaltende Maßnahmen abbrechen, um den Herzstillstand mehr oder weniger kontrolliert herbeizuführen - oder gar das Herz gezielt zum Zeitpunkt der Wahl zum Schweigen bringen. Man würde also dazu tendieren zu töten.
Das Konzept des „non heart beating donor“, also des Spenders ohne Herzschlag, das zunächst so plausibel erscheint, erweist sich daher bei genauerer Betrachtung als ethisch nicht vertretbar, weil es von einem ungenügenden Verständnis des Herztodes ausgeht, und weil es überdies aus praktischen Gründen nahezu zwingend dazu tendiert, den Tod gezielt herbeizuführen. In Deutschland wird dieses Konzept (noch?) abgelehnt, und die deutschen Ärzte nehmen keine Organe aus dem Ausland an, die von einem Spender stammen, dessen Tod nur wegen Herzstillstand angenommen wurde. Dabei wird durchaus in Kauf genommen, daß deswegen ein gewisser Anteil deutscher transplantationsbedürftiger Patienten unversorgt bleibt. Es gibt also hierzulande keine Organtransplantation um jeden Preis.
„Gerechtfertigtes Töten“
Während sich die Auswirkungen der abzulehnenden Praxis des „Spenders ohne Herzschlag“ auf die Transplantationsmedizin beschränken, droht ein Vorschlag „Gerechtfertigtes Töten“ alle Grenzen zu sprengen, denn wenn eine Tötung überhaupt erst einmal als gerechtfertigt akzeptiert wird, dann ist nicht einzusehen, weshalb es nicht auch weitere Rechtfertigungen dafür geben soll - etwa die Tötung auf eigenen Wunsch oder wegen sozialer Unbrauchbarkeit oder aus Mitleid. Deswegen - und nicht nur deswegen . ist dem Vorschlag eines wegen Organentnahme gerechtfertigten Tötens entschieden entgegenzutreten, Zwei renommierte amerikanische Medizinethiker haben ihn jüngst öffentlich gemacht. Der eine von ihnen, Franklin G. Miller, ist im US National Institute of Health für Bioethik verantwortlich und der andere, Robert Truog, für Medizinethik in der Harvard Medical School in Boston, jener Einrichtung, aus der seinerzeit die Hirntoddefinition kam. (Rethinking the Ethics of Vital Organ Donations, Hastings Center Report 38, Nr. 6, 2008) Die Autoren übernehmen die bekannten Argumente gegen das Hirntodkonzept und behaupten nun, daß Hirntote doch lebende Menschen seien. Deswegen halten sie die derzeitige Praxis der Organentnahme an Hirntoten, also nach ihrer Ansicht an Lebenden, für Tötung. Doch sie folgern daraus nicht etwa, diese von ihnen so bezeichnete Praxis aufzugeben. Vielmehr erklären sie die Tötungen durch Organentnahme einfach für gerechtfertigt, um der Transplantationsmedizin mehr Organe zu verschaffen und sie auf eine rechtlich sichere Basis zu stellen.
In ihrer Begründung für die Rechtfertigung solchen Tötens erklären sie ausdrücklich, daß sie sich dazu nur ihres „common sense“, also ihres gesunden Menschenverstandes, bedienen und nicht irgendwelche philosophischen oder wissenschaftlichen Kausalitätslehren übernehmen. Offenbar sehen sie also von alledem einfach ab, was vor ihnen über Verursachung je gedacht worden ist. Die Frage der Verursachung spielt aber in ihrer Argumentation eine wesentliche Rolle.
So gehen sie davon aus, daß der Abbruch oder das Vorenthalten von lebenserhaltenden Maßnahmen, weil dem der Tod folge, immer eine Tötung sei. Es komme dabei nicht darauf an, wer unterlasse oder vorenthalte und mit welchem Recht, sondern nur darauf, daß dieses Vorenthalten oder Unterlassen „die“ Ursache des Todes sei. Den Einwand, die tödliche Erkrankung sei Todesursache, lassen sie nicht gelten.
Doch müssen sie sich entgegenhalten lassen, daß es „die“ Todesursache nicht gibt. Jedes Ereignis ist nämlich nach der Kausalitätslehre die Folge zahlreicher ihm vorausgehender Bedingungen und letztlich eines schier unübersehbaren Bedingungsfeldes oder vieler Ursachenketten, die sich, wenn man an den Urknall glaubt, bis zu diesem zurückverfolgen ließen. Bei Wegfall auch nur einer dieser Bedingungen oder „Ursachen“ wäre das betrachtete Ereignis, etwa der Tod, nicht eingetreten. Ein solches Kausalitätsverständnis ist zwar logisch einsichtig, nichtsdestoweniger aber kaum zu gebrauchen, es sei denn, man habe festgestellt, auf welche der zahllosen „Ursachen“ eines Ereignisses es jeweils ankommt. So kommt es darauf an, ob einem Menschen ein Tun oder Unterlassen, durch das jemand zu Tode kam, zum Vorwurf gemacht werden soll. Jedermann wird einsehen, daß ein solcher Vorwurf unberechtigt ist, wenn er sich etwa gegen die Großeltern eines Mörders richtet, weil sie dessen Vater oder Mutter in die Welt gesetzt haben, was ja zweifellos eine unerläßliche Vorbedingung für den späteren Mord gewesen ist.
Kausalität erfordert deswegen, wenn sie für Recht und Ethik (aber auch sonst) festgestellt werden soll, eine begrenzende Beurteilung. Dazu wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Man spricht von Handlungen mit doppeltem (oder mehrfachem) Effekt, man nennt eine Verursachung adäquat oder sucht nach einer „rechtlich allein wesentlichen Ursache“. In jedem Falle wird die bloße Verursachung nicht als ausschlaggebend angesehen. Vielmehr verlangt das praktische Leben nach Unterscheidungen.
Miller und Truog verweigern diese, indem sie unterschiedslos jedes Einstellen oder Vorenthalten lebensverlängernder Maßnahmen als Tötung im moralischen und rechtlichen Sinne qualifizieren. Ihre Konsequenz ist, daß auch jenes Einstellen oder Vorenthalten eine Tötung darstellt, das sich z. B. wegen der Verweigerung der Behandlung durch den Kranken rechtfertigt. Damit aber akzeptieren sie ein gerechtfertigtes Töten, für das es nur eines guten Grundes bedarf. Töten ist dann nicht mehr per se unerlaubt. Es bedarf nur mehr eines guten oder mindestens akzeptierten Grundes. Deswegen wirkt der Vorschlag „gerechtfertigtes Töten“ unabsehbar weit über das Feld der Transplantationsmedizin hinaus und ist wie die Tötung auf Verlangen oder jede Form von Euthanasie eindeutig abzulehnen.
Ganz wohl ist den Autoren bei ihrem Vorschlag keineswegs. Einwänden wollen sie nicht mit Logik, sondern mit Rhetorik begegnen. Und abgründig und entlarvend wirkt ihr Rat, ihren Vorschlag nur dann zu verwirklichen, wenn dadurch in der Tat mehr Organe gespendet werden. Sonst aber wollen sie es lieber bei der derzeitigen Praxis belassen, die ihrer Ansicht nach eine wahrheitswidrige ist. Damit stellen sie aber ein Nützlichkeitsargument über den Anspruch auf Wahrheit.
Es sei nicht verschwiegen, daß es auch unter den traditionellen Gegnern des Hirntodkonzeptes Befürworter der Organtransplantation gibt, die das Einverständnis eines Sterbenden mit einer Organentnahme zu Lebzeiten als großherzigen Akt der Nächstenliebe betrachten und gutheißen, also ebenso wie Miller und Truog einen tödlichen Eingriff an einem noch Lebenden billigen. Sie drücken das lediglich etwas verschleiert aus. Gerade deswegen muß die klare und eindeutige Sprache der amerikanischen Autoren auch von denen zur Kenntnis genommen werden, die eine großherzige Organspende von Lebenden in Todesnähe befürworten. Sie müssen erkennen, auf welchem Abweg sie unterwegs sind
Herkömmliche Todesfeststellung
Die Gegner des Hirntodkonzeptes werden an ihren neuen ungerufenen Bundesgenossen keine Freude haben. Doch sollten deren Aktivitäten Anlaß sein, das bekämpfte Konzept erneut zu überdenken.
Daß ein Hirntoter tot sei, wird in der Tagespost seit einigen Wochen in Artikeln und Leserbriefen heftig bestritten. Genauer gesagt geht es um die Frage, ob der Hirntod zum Nachweis des Todes eines Menschen genüge. Diese Frage wird verneint, ohne daß ausdrücklich beschrieben wird, was denn nun im Gegensatz zum Hirntod als Zeichen des Todes eines Menschen anzusehen ist. Offenbar wird das als selbstverständlich und bekannt vorausgesetzt. So selbstverständlich und bekannt ist es aber in Wirklichkeit nicht. Ein Hinterfragen ist notwendig, und zwar sowohl danach, was denn herkömmlich die sicheren Todeszeichen sind, und danach, wieso diese als Zeichen des Todes eines Menschen gelten.
Genau diese Fragen müssen aber auch für den Hirntod gestellt und beantwortet werden, wenn dieser als Mittel zur Feststellung des Todes eines Menschen abgelehnt oder gar vehement bekämpft wird. Es geht also darum, nüchtern die Fakten zu sehen und die Folgerungen daraus zu prüfen, denn ohne Kenntnis der Fakten und ohne Kenntnis der Art und Weise, wie daraus gefolgert wird, ist eine Urteilsbildung ausgeschlossen.
Das Aufhören von Atmung und Herzschlag wird gewöhnlich als Eintritt des Todes angesehen. Doch ist danach, wie oben bereits ausgeführt, eine „Wiederbelebung“ spontan oder künstlich durch mechanische oder elektrische Eingriffe zunächst noch nicht ausgeschlossen. Deswegen gelten diese Symptome - ebenso wie Blässe, Auskühlung und das sogenannte „Brechen des Blicks“, nämlich die plötzliche Unbeweglichkeit der Augen, - nur als unsichere Todeszeichen. Nur nach dem endgültigen Stillstand der Atem- und Herztätigkeit kann man - im Nachhinein - sicher vom Eintritt des Todes ausgehen. Aber erst an typischen Leichenerscheinungen wird erkennbar, daß der Stillstand ein endgültiger war. Solche treten gewöhnlich nach 20 Minuten als Totenflecken, zuerst seitlich am Halse, und innerhalb der ersten Stunden als Totenstarre vom Kiefer beginnend und die gesamte Muskulatur ergreifend auf. Sie gelten als „sichere Todeszeichen“, und der Arzt, der den Tod feststellt, muß bescheinigen, daß er solche wahrgenommen hat.
Davon abgesehen ist aber aus biologischer Sicht das Sterben auch nach dem Erscheinen der sicheren Todeszeichen keineswegs zu Ende. Wann ein Mensch tot ist, und ob der Hirntod den wahren Zeitpunkt des Todes eines Menschen richtig kennzeichnet, das ist eine ontologische Frage, also eine solche nach dem Sein. Sie darf keinesfalls mit der Absicht beantwortet werden, einen Behandlungsabbruch - zu welchem Zweck auch immer, etwa wegen beabsichtigter Organentnahme oder aus wirtschaftlichen Gründen oder um zu töten - zu rechtfertigen.
Ausgehend vom Satz vom Widerspruch, daß etwas in der gleichen Hinsicht betrachtet nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann, werden Leben und Tod als unvereinbar angesehen. Daraus folgt die Notwendigkeit, den Abschluß des Sterbens, also sein Ende, in einem Zeitpunkt zu suchen. Es entspricht dies auch den sozialen Erfordernissen. An der Realität eines solchen Zeitpunktes im Sinne menschlicher Kategorien besteht kein Zweifel. Um aber diesen Zeitpunkt zu kennzeichnen, bedarf es - und bedurfte es seit jeher - eines Rückgriffes auf biologische Erscheinungen. Biologisch aber erfolgt der Übergang vom Leben zum Tode nicht punktförmig diskontinuierlich, sondern kontinuierlich, also im Ablauf von Zeit.
Der biologische Tod
Das Ende des Sterbens im Sinne des Endes aller Lebensvorgänge tritt biologisch aber erst lange Zeit nach dem Augenblick ein, zu dem ein Mensch bürgerlich für tot - gleichviel ob herztot oder hirntot oder sonstwie tot - gehalten wird. Das zeigt sich über den „bürgerlichen“ Tod hinaus an den sogenannten supravitalen Erscheinungen. So sind einer Leiche entnommene Spermien noch lange beweglich und befruchtungsfähig, und für reife Eizellen dürfte das in analoger Weise gelten. Eines der wichtigsten Kennzeichen für Leben, nämlich die Fähigkeit zur Fortpflanzung, überdauert also den „Tod“. Auch die Fähigkeit zur Synthese der Erbsubstanz DNA ist noch Tage nach dem „Tod“ in Hautzellen nachweisbar. Wollte man den Tod des Menschen mit dem Ende aller Lebensvorgänge in seinem Körper gleichsetzen, so müßte man zugeben, daß Menschen in der Regel lebendig begraben werden. Davon wird aber nicht ausgegangen. Vielmehr wird der in der Kategorie des Menschen reale Zeitpunkt des Todes auf den in der Zeit kontinuierlich ablaufenden biologischen Sterbevorgang projiziert.
Ein Sterbevorgang nähert sich asymptotisch seinem Ende, verläuft aber keineswegs gleichförmig. Vielmehr stürzt er, wenn man ihn als Kurve der Lebensvorgänge über der Zeitachse betrachtet, in einem engen Zeitraum nahezu senkrecht ab. Das geschieht, wenn Atem-, Herz- oder Hirntätigkeit ausfallen. Darum ist es vernünftig, den Zeitpunkt des Todes des Menschen in diesen fast senkrechten Abfall der Lebensvorgänge hinein zu projizieren, also je nach Feststellbarkeit auf das endgültige Ende der Atem-, Herz- oder Hirntätigkeit.
Hirntod biologisch, eine Entdeckung
Vor der Ära der Intensivmedizin, insbesondere vor der Möglichkeit, die Sauerstoffversorgung des Körpers durch künstliche Beatmung über den Ausfall der Spontanatmung hinaus zu ersetzen und damit die Herztätigkeit in Gang zu halten, war der Hirntod nicht isoliert beobachtbar. Er wurde es erst jetzt, eben durch die künstliche Beatmung. Selbstverständlich gab es ihn - unerkannt - auch in früheren Zeiten. Der Hirntod ist deswegen keine Erfindung, sondern eine Entdeckung.
Hirntod tritt ein, wenn eine Schädigung des Gehirns, sei es durch kreislaufbedingten Sauerstoffmangel, sei es durch mechanische Gewalteinwirkung oder einen Tumor oder eine Blutung („Schlaganfall“) zu einem Hirnödem, also zu einer Volumenvermehrung des Gehirns durch Wasseraufnahme, geführt hat. Diese erschwert zunächst den venösen Blutabfluß, was die Wasseraufnahme verstärkt. Schließlich kommt es aber zur Abklemmung des arteriellen Blutzuflusses, was dann unmittelbar das Absterben der Gehirnzellen, eben den Hirntod, zur Folge hat. Dieser Prozeß kann sehr schnell, nämlich innerhalb von Minuten, ablaufen oder sich auch über Tage hinziehen. Sein Abschluß, der vollständige Tod des ganzen Gehirns, ist im Nachhinein durch eine verhältnismäßig einfache klinische Untersuchung (im Wesentlichen durch Prüfung von Reflexen bei ausgefallener Spontanatmung) feststellbar. Als sicher nachgewiesen gilt der Hirntod erst dann, wenn sich das klinische Untersuchungsergebnis nach mehreren Stunden nicht verändert hat. Nur wenn eine solche Sicherheitszeit wegen beabsichtigter Organentnahme nicht abgewartet werden soll, kann darauf verzichtet werden, indem entweder das gänzliche Fehlen der Hirndurchblutung oder das gänzliche Fehlen elektrischer Hirnaktivität (Nulllinien-EEG) apparativ nachgewiesen wird.
Hirntod anthropologisch
So gesehen ist es biologisch vernünftig, den Hirntod ebenso wie den sicheren Herztod als den Tod des Menschen anzusehen. Der Hirntod als Tod des Menschen ist auch anthropologisch begründbar: Die Annahme eines lebenden Menschen setzt das Vorhandensein eines lebenden Organismus voraus. Dieser ist biologisch von der abgeschlossenen Vereinigung von Ei- und Samenzelle an vorhanden. Beim Menschen - ebenso wie bei höheren Tieren, mindestens bei den Säugern - entwickelt sich im Laufe des Lebens das Gehirn als das notwendige zentrale Steuerungsorgan. Bei dessen Ausfall kann aber nicht mehr von einem lebenden Organismus gesprochen werden, wenn dessen Steuerung durch das Gehirn ausgefallen ist. Das ist beim Hirntod ebenso wie bei der Enthauptung und typischem Erhängen der Fall, wobei das Herz ohne Unterstützung zunächst kurze Zeit weiterschlägt, nach einer Erhängung etwa 15 Minuten. Mit dem Hirntod, gleichsam einer inneren Enthauptung, entfällt aber für den Menschen sein biologisches Substrat, nämlich sein Organismus. Das hat er mit den höheren Tieren gemein. Demnach ist es nicht etwa der Ausfall des den Menschen vom Tier unterscheidenden Verstandes, der der Erklärung des Hirntodes dient, vielmehr ist es der Wegfall seines biologischen Substrates.
Behauptungen, daß Menschen nach festgestelltem Hirntod wieder aus dem Koma erwacht seien, lassen sich für Fälle einwandfrei durchgeführter Hirntoddiagnostik nicht bestätigen. Einwänden, die sich auf koordinierte Bewegungen und andere Reaktionen von Hirntoten berufen, ist mit dem Hinweis auf das bei Hirntod durchaus noch funktionierende Rückenmark zu begegnen. Daß der Leib einer hirntoten Schwangeren über Wochen und Monate sozusagen vitalkonserviert werden kann, was bei anderen Hirntoten nur für kurze Zeit möglich ist, verdankt sich möglicherweise dem Gehirn des Ungeborenen, das ersatzweise die Steuerung der Vitalvorgänge im mütterlichen Körper übernimmt.
Der vernunftgemäße Todeszeitpunkt
Das Ende aller Lebensvorgänge im menschlichen Körper als den für den Umgang der Menschen miteinander maßgeblichen Zeitpunkt des Todes anzunehmen, ist sicher nicht vernünftig. Dagegen hat es sich bewährt, den Todeszeitpunkt im Bereich des steilen Abfalls der Lebensvorgänge innerhalb des Sterbevorganges zu suchen und anzunehmen. Dieser war bisher nur am endgültigen Ausfall von Atem- und Herztätigkeit erkennbar. Seit die Atmung apparativ ersetzt und die Herztätigkeit dadurch aufrechterhalten wird, ist nun auch der Hirntod erkennbar geworden, wenn auch nicht so sinnenfällig wie der Tod bisher, Er ist damit zum gleichwertigen Kriterium des eingetretenen Todes geworden. Der Papst hat sich dazu nicht geäußert. Er spricht nur von der Leiche (cadaver), ohne diese zu definieren, was er offensichtlich der Medizin überläßt.
Wo bleibt die Seele?
Der Katechismus der katholischen Kirche besagt, daß die Seele „beim Tode“ vom Leib getrennt wird und definiert dafür keinen für uns erkennbaren Todeszeitpunkt. Er spricht im Übrigen davon, daß die Seele „forma corporis“ ist, also von der Beseelung des Leibes, was mit der Erschaffung des Menschen als Gottes Ebenbild zusammenhängt und nicht schlicht das biologische Leben meint, das Voraussetzung für eine Beseelung ist. Wer glaubt, es gebe in dieser Frage eine perfekte Zusammenschau der biologischen und der theologischen Sicht des Menschen, der hätte eines der größten Geheimnisse der Menschheit entschlüsselt, angesichts dessen es nur Behelfe gibt. Das Hirntodkonzept ist ebenso ein solcher Behelf wie die herkömmliche Todesfeststellung, so selbstverständlich die letztere erscheinen mag, und so ungewohnt die erstere ist. Deswegen seien die Streitenden zur Kenntnisnahme der Fakten und unserer unbeholfenen Deutungen und folglich zur Bescheidenheit ermahnt! Eifer ist dabei eher schädlich. Daß sich sogar vatikanische Gremien in diesem Streit so sehr ereifern, daß es zu einem Veröffentlichungsverbot gekommen ist, muß man bedauern. Letztlich fehlt es an der Einsicht, daß die „Trennung der Seele“ vom Leibe einer anderen, nicht unmittelbar erfahrbaren Wirklichkeit und nicht einer naturwissenschaftlich faßbaren entspricht.
Folgerungen
Zunächst muß man der Realität ins Auge sehen, daß die Meinungen über den Hirntod als den Tod des Menschen unter Laien und Fachleuten geteilt sind. Über diese Tatsache muß derjenige, der der Entnahme seiner Organe zur Transplantation zustimmt, informiert sein. Sonst ist seine Zustimmung rechtlich unwirksam. Wenn demnächst der Staat von jedem Bürger eine rechtsverbindliche Erklärung über seine Bereitschaft zur Organspende einfordert, muß er über die geteilten Meinungen über den Hirntod informieren, auch wenn das der Spendebereitschaft nicht eben dienlich ist. Niemand kann gezwungen werden, der gesetzlichen Anerkennung des Hirntodes als des Todes des Menschen zuzustimmen.
Die Auseinandersetzung über die Hirntodfrage muß versachlicht werden. Dazu gehört, die Behauptung zu unterlassen, der Hirntod sei erfunden worden, um die Transplantation lebendfrischer Organe möglich zu machen. Richtig ist, daß das Phänomen des Hirntodes entdeckt wurde, als Kreislauf und Herztätigkeit durch künstliche Beatmung aufrechterhalten werden konnten, obwohl das Gehirn bereits abgestorben war. Daß die Transplantationsmedizin darin ihre große Chance erblickte, ist ihr nicht vorzuwerfen; im Gegenteil!
Zur Versachlichung gehört auch, die Behauptung zu unterlassen, es hätten Patienten nach ordnungsgemäß festgestelltem Hirntod wieder spontan geatmet, ihr Bewußtsein wiedererlangt oder sie seien sogar wieder ganz gesund geworden. Wäre dies auch nur ein einziges mal der Fall gewesen, dann würde sich die ganze Debatte um den Hirntod erübrigen; es gäbe ihn nicht als den Tod des Menschen.
Es gibt diese Debatte aber doch. Sie ist geduldig und furchtlos fortzusetzen. Dabei darf der Gesichtpunkt der Organbeschaffung keine Rolle spielen. Schließlich muß allen Versuchen - von woher sie auch immer kommen mögen -entschieden entgegengetreten werden, von der „dead donor Regel“ abzuweichen, um über mehr Organe für die Transplantation verfügen zu können. Es geschieht das verdeckt dadurch, daß der „non heart beating donor“, also der Patient mit Herzstillstand, zum Toten erklärt wird. Und es geschieht dadurch, daß ganz offen ein Töten zwecks Organentnahme für rechtens gehalten wird.
Ob es eine Christenpflicht zur Organspende gibt, mag heute dahingestellt bleiben. Aber daß es eine Christenpflicht gibt, sich über deren Voraussetzungen zu informieren, kann nicht bezweifelt werden. Diese Pflicht zu erfüllen sollen die vorstehenden Ausführungen dienen.
Ein Kommentar von Prof. Dr. Hans-Bernhard Wuermeling